Emotionale Abhängigkeit erkennen, verstehen, verändern

Emotionale Abhängigkeit erkennen, verstehen, verändern

Denise Winter
von Denise Winter

Was ist „emotionale Abhängigkeit“?

Wenn du das hier liest, bist du vermutlich in einer Phase, in der sich etwas innerlich nicht stimmig anfühlt: Du spürst, dass dein Wohlbefinden, dein Selbstwert, dein Gefühl, richtig zu sein, stark an eine Person gekoppelt ist – an deinen Partner oder deine Partnerin – und du fragst dich: 

„Ist das noch Liebe – oder schon Abhängigkeit?“

Emotionale Abhängigkeit bedeutet, dass nicht mehr die Beziehung zum Leben beiträgt – sondern dass die Beziehung und die Resonanz deiner Partnerin/deines Partners zum Leben geworden ist. 

Dass dein inneres Gleichgewicht, deine Gefühle und dein Selbstwertgefühl zunehmend davon abhängen, wie sich dein Gegenüber verhält, wie er oder sie sich dir gegenüber zeigt. Wenn du denkst: 

„Ohne ihn / sie geht nichts“

„Wenn er / sie nicht da ist, fühle ich mich leer“

„Mein Wert hängt davon ab, wie er / sie mich sieht“

„Ich muss (...) tun, damit er / sie mich gern haben kann“

„Nur mit dir kann ich glücklich sein“

– dann sind das Alarmzeichen. 

In der Fachliteratur heißt es etwa: „Eine übertrieben enge Beziehung zur anderen Person, verbunden mit dem Gefühl, nur diese Person könne die emotionalen Bedürfnisse erfüllen“ ist typisch für emotionale Abhängigkeit. 

Wichtig: Es gibt einen wesentlichen Unterschied mit gesunder Nähe oder tiefer Verbundenheit. Abhängigkeit überschreitet die gesunde Balance von „Ich und du“ und kippt in ein Muster von „Ich nur durch dich“.

Woran erkennst du, dass du dich in diesem Kreislauf befindest?

Es ist nicht immer leicht, ehrlich und klar hinzuschauen – oft begleitet von Schuld, Scham oder dem Gefühl: „Wie konnte ich das zulassen?“ Hier einige typische Merkmale, die du in dir entdecken kannst – und mit denen wir im therapeutischen Prozess arbeiten.

1. Dein Selbstwert hängt stark von deinem Partner / deiner Partnerin ab.

  • Du fühlst dich gut, wenn er/sie dich sieht, würdigt, begehrt – schlecht, wenn nicht.
  • Deine Stimmung schwankt dramatisch je nachdem, wie er/sie reagiert.
  • Du denkst: *„Wenn ich ihn/sie verliere, verliere ich mich.“* 

2. Angst vor Alleinsein, Trennung oder / und: Kontroll-, Klammer- oder Rückzugsverhalten.

  • Du vermeidest Dinge alleine zu tun – weil du dich dann hilflos, leer oder verloren fühlst. 
  • Du passt dich übermäßig an: Deine Wünsche, Bedürfnisse, Interessen treten in den Hintergrund. 
  • Du fühlst Leere oder Panik, wenn dein Partner oder deine Partnerin emotional oder physisch nicht verfügbar ist. 

3. Beziehung wird zur einzigen Überlebensstrategie – andere Bezüge verlieren an Bedeutung.

  • Andere Beziehungen (Freunde, Hobbys, Familie) vernachlässigst du, weil „nur das WIR zählt“.
  • Dein Leben dreht sich primär darum, wie dein/e Partner/in sich fühlt, was er braucht, wie du ihn oder sie sicherst.
  • Du erlebst, dass Du dich selbst Stück für Stück verlierst. „Ich weiß nicht mehr, wer ich ohne ihn/sie bin.“

Wenn mindestens einige dieser Punkte dich innerlich ansprechen, kann es sehr gut sein, dass du in einem Muster der emotionalen Abhängigkeit bist. Das bedeutet nicht, dass du „schuld“ bist – sondern dass du in ein tief verankertes Muster geraten bist, das sich verändern lässt.

Wie entsteht emotionale Abhängigkeit?

Als Paartherapeutin beobachte ich regelmäßig, wie solche Muster mehrstufig gewachsen sind – nicht über Nacht, sondern über Jahre hinweg. Zu wissen, wo sie herkommen, ist ein wichtiger Schritt zur Veränderung.

1. Frühe Bindungserfahrungen und Selbstwertentwicklung

In vielen Fällen liegen die Wurzeln in der Kindheit: Vielleicht hast du erlebt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft war („Wenn du brav bist, dann…“), oder du hast gelernt, deine Bedürfnisse hinten anzustellen, um Nähe und Zuwendung zu sichern. 

Wenn Selbstwert hauptsächlich über die Zuwendung von außen lief, entsteht später in Beziehungen leicht das Muster: „Ich brauche dich, damit ich mich wertvoll fühle.“

2. Glaubenssätze und innere Anteile

Ein Glaubenssatz könnte lauten: „Ich muss geliebt werden, damit ich existieren darf.“ Oder: „Wenn ich nicht für dich da bin, bin ich nichts wert.“ Diese inneren Überzeugungen lassen uns in Beziehungen nicht mehr frei atmen – wir dienen dem Erhalt der Beziehung statt unserer eigenen Mitte.

3. Wechselspiel von Nähe und Rückzug, von Idealisierung und Enttäuschung

Der Verlauf einer emotional abhängigen Beziehung zeigt oft bestimmte Phasen: Starke Idealisierung des Partners / der Partnerin, dann Enttäuschung, Angst vor Verlust, Klammern, in manchen Fällen auch Manipulation oder Kontrollversuche. 

Die Dynamik kann sich so anfühlen wie eine Sucht: kurze „Höhen“ durch Nähe, Zuwendung, Bestätigung – gefolgt von „Tiefs“, wenn der Partner /die Partnerin nicht verfügbar ist oder zurückzieht. 

4. Projektion & Übertragung

In der systemischen Arbeit sehen wir, wie du in den anderen etwas hineinprojizierst, das du selbst bist oder sein könntest – z. B. ein Anteil deines inneren Kindes, das nicht gesehen wurde – und die Beziehung übernimmt stellvertretend die Funktion, diese Leerstelle zu füllen. Solange du den Teil in dir nicht integriert hast, bleibt der Appell aktiv: „Sei für mich da, rette mich, mach mich fühlbar.“

Wenn dein Wert vom Partner / von der Partnerin abhängig wird: Was kannst du tun?

Das Herz des Weges liegt darin, die eigene Autonomie, den eigenen Wert, deine Bedürfnisse wieder in den Mittelpunkt zu stellen – und so Partnerschaft neu auf Augenhöhe zu gestalten. Hier kommen hilfreiche Schritte und therapeutische Methoden ins Spiel, mit denen wir in der Praxis arbeiten.

Schritt 1: Wahrnehmen – statt verdrängen

  • Nimm wahr: Wo spürst du in deinem Körper, dass du dich klein machst, wartest, klammerst?
  • Welche Gedanken kommen automatisch („Wenn er mich nicht liebt, bin ich nichts“, „Ich muss mich anstrengen, damit sie bleibt“)?
  • Welche Emotionen tauchen auf: Angst, Wut, Traurigkeit, Leere?

Schritt 2: Deine inneren Anteile kennenlernen

In der systemischen Therapie arbeiten wir unter anderem mit „inneren Anteilen“. Die Idee dieser Methode ist, dass der Mensch aus vielen verschiedenen inneren Anteilen (Ego States) besteht. Wir sind nicht nur eine Seite, sondern bestehen aus verschiedenen Facetten, die in unterschiedlichen Beziehungs-Dynamiken oder Ausgangssituationen herausstechen. Diese können sein: Das hilfsbedürftige Kind, der Leistungserbringer, der Kontroll-Agent, der Überanpasser u.v.m.

  • Welche Anteile treten auf, wenn du dich abhängig fühlst?
  • Welcher Teil von dir will Sicherheit durch den Partner, welcher Teil fühlt sich schuldig, wenn du eigene Bedürfnisse hast?

Indem du diese Anteile benennst, ihnen Raum gibst und mit ihnen Dialog führst, kannst du ihnen ihre Funktion entziehen – und dadurch die Abhängigkeit durchbrechen.

Schritt 3: Wertearbeit – Klar werden, wer du bist

Ein zentraler Baustein ist die Arbeit mit deinen Werten. Fragen wie:

  • Was ist mir wichtig – mir persönlich? (z. B. Freiheit, Kreativität, Verbundenheit, Authentizität)
  • Lebe ich diese Werte – oder habe ich sie zugunsten der Beziehung verschoben?
  • In welcher Balance stehe ich zwischen „Ich“ und „Wir“?

Wenn du merkst, dass dein Wertgefühl davon abhängt, wie dein Partner / deine Partnerin dich sieht – dann ist die klare Antwort: Du musst zurück zu deinem Wertempfinden unabhängig von ihm/ihr.

Schritt 4: Aufstellungsarbeit als Methode der Außen-Innen-Map

Die Aufstellungsarbeit (z. B. Familienaufstellungen, System-Aufstellungen) ist in der systemischen Therapie ein kraftvolles Werkzeug:

Du stellst bildlich auf, welche Personen oder Anteile in deinem System sind (z. B. dein Anteil „Ich ohne ihn“, dein Anteil „Ich nur mit ihm“, der Anteil „Angst vor Verlust“)

Durch diese Visualisierung entdeckst du oft überraschend: Welche Kräfte wirken da – Bindung, Angst, Projektion, alte „Familienreihen“ (z. B. Mutter, die sich für den Vater eingesetzt hat, Kinder, die früh Verantwortung übernahmen)

Im therapeutischen Feld können wir dann auflösen: „Ich“ wird stärker, die Abhängigkeit wird sichtbar, kann benannt und neu geordnet werden

Schritt 5: Kleine Schritte zur eigenen Stärke und Autonomie

  • Übe – z. B. eine Aktivität allein durchzuführen, die du früher mit deinem Partner gemacht hast (Spaziergang, Kino, Café)
  • Setze bewusst eine Grenze – z. B. „Heute mache ich das für mich“, oder „Ich brauche heute keinen Rat, ich will gehört werden“
  • Pflege deine **Beziehungen außerhalb** – Freund*innen, Hobbys, dein Team. Autonomie heißt nicht Einsamkeit, sondern Selbstverbindung
  • Erlaube dir, dich wertzuschätzen, unabhängig davon, ob dein Partner / deine Partnerin dich sieht oder nicht. Dein Wert war vor dieser Person schon da. Vielleicht konntest du ihn nur noch nicht spüren oder du hast ihn länger nicht mehr unabhängig deiner Partnerschaft wahrgenommen.

Schritt 6: Beziehung neu gestalten

Wenn du dich stärker spürst und stabiler in dir stehst, kannst du mit deinem Partner oder deiner Partnerin in einen offenen Dialog gehen:

  • „Mir ist aufgefallen, dass ich mich an dich klammere – das tut mir nicht gut.“
  • „Ich möchte mit dir gemeinsam eine Beziehung leben, in der wir beide unsere Autonomie haben.“
  • „Ich brauche nicht, dass du mich rettest – sondern dass wir uns im Miteinander stärken.“

In der therapeutischen Begleitung schauen wir dann: Wie reagieren wir auf Nähe und Distanz? Wie kommunizieren wir über Bedürfnisse – statt Forderungen?

Was bedeutet das konkret im therapeutischen Setting?

In unserer praxis­therapeutischen Arbeit mit Paaren und Einzelpersonen, die unter emotionaler Abhängigkeit leiden, nutzen wir diese Methoden:

Systemische Gesprächs­arbeit: Wir schauen nicht nur auf das Paar, sondern auf dein individuelles Familiensystem, deine Verstrickungen, deine Muster.

Arbeit mit inneren Anteilen: In Einzel- oder Paar­therapie benennen wir „Anteile“, die mehr Macht bekommen haben als dein erwachsenes Ich – z. B. das hilflose Kind, der Über-Anpasser, der Kontroll-Teil. Diese Anteile wollen gesehen werden – nicht bekämpft.

Werte- und Ressourcen­arbeit: Wir suchen gemeinsam heraus, was deine Werte sind, welche Ressourcen du hast – und wie du Zugang zu deiner Stärke und Würde bekommst.

Aufstellungsarbeit: Ob mit Stellvertretern im Raum oder im Gedankenexperiment – wir machen sichtbar, wer oder was in deinem System mitspielt: Angst, Schuld, Erwartung, Unbewusstes. Indem wir Positionen verändern, gewinnen wir Freiheitsräume.

Achtsamkeit & Selbstfürsorge: Parallel erarbeoten wir, wie du dich selbst regulieren kannst – wenn dein Partner / deine Partnerin emotional abwesend ist, wie du dich selbst stützen kannst, statt dich in Panik zu geben.

Warum lohnt sich dieser Weg – und worauf darfst du dich gefasst machen?

Ja – es lohnt sich.

Denn wenn du aus dem Kreislauf der emotionalen Abhängigkeit aussteigst, gewinnst du:

  • Mehr innere Freiheit: Du bist nicht mehr ständig in Reaktion, sondern kannst bewusst wählen.
  • Mehr Selbstwert: Du fühlst dich unabhängig von der Bewertung deines Partners.
  • Mehr Beziehung auf Augenhöhe: Du bist voller Verbindung und zugleich eigenständig – das ist echte Nähe.
  • Mehr Lebensfreude: Du musst nicht mehr dein Leben anpassen, nur damit die Beziehung läuft. Du lebst dein Leben – mit einem Partner an deiner Seite, nicht statt dir.

Und dennoch – es ist ein Weg mit Mut, mit Schmerz, mit Fragen. Manche Tage sind schwierig. Auch Rückfälle sind möglich – du erlebst vielleicht: „Ich merke, wie ich doch wieder klammere“. Dann ist es wichtig: nicht zu urteilen, sondern zu verstehen: „Ah, da war wieder ein Anteil, der sich bedroht fühlte.“

Ausblick: Erste Reflexionsfragen für dich

Wenn du möchtest, beantworte für dich allein (oder bringe sie in deine Therapie mit) diese Fragen:

  1. In welchen Situationen spüre ich besonders, dass mein Selbstwert von meinem Partner / meiner Partnerin abhängt?
  2. Welche inneren Stimmen kommen hoch („Ich muss…, Wenn ich nicht…“) und welcher Anteil von mir spricht hier?
  3. Welche meiner Werte habe ich in der Beziehung vielleicht hintenangestellt – und wie möchte ich sie wieder leben?
  4. Wenn ich an eine Aufstellung meiner Beziehung denke – wie sähe mein Anteil „Ich ohne Abhängigkeit“ aus? Was würde er tun, sagen, fühlen?
  5. Welche kleinen Schritte kann ich in dieser Woche gehen, um meine Autonomie zu stärken – und was würde ich mir selbst erlauben?

Liebe /r Leser /in – es ist ein großes und heilsames Unterfangen, die emotionale Abhängigkeit zu erkennen und sich herauszubewegen. Du musst nicht perfekt sein. Du darfst Fehler machen. Und du darfst auch wachsen – hin zu einer Beziehung, in der du nicht dein Leben verleihst, sondern dein Leben mit einem Menschen lebst, nicht für ihn. Wenn du Unterstützung möchtest – in meiner Praxis, in Einzel- oder Paarberatung – begleite ich dich sehr gern auf diesem Weg.

In Verbundenheit und Wertschätzung –

Denise

Denise Winter
Denise Winter
Pädagogin und Coachin

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