
Weihnachten steht vor der Tür. Der Kloß in meinem Hals ist schwer und scheint in der Größe einem Meteoriten zu gleichen. Wie riesengroßes schwarzes Gestein steckt er fest in meinem Hals und mir kommt kein Wort über die Lippen. "Ob du auch schon alle Geschenke hast", möchte meine Mutter von mir wissen. Geschenke. Nein, ich habe bisher keine Geschenke. Ich bin wie gelähmt. Ihr Blick ist wie immer freundlich, auch wenn sie gerade keine Ahnung davon hat, was in mir vorgeht. "Ja ich hab alles. Ich war in diesem Jahr recht schnell damit und hab alles zeitig erledigt. ich will in diesem Jahr keinen Stress." Sie lächelt, nimmt mich in den Arm und springt dann in den Bus. Ich winke ihr wie jedes Mal, wenn sie an der Scheibe sitzt um wieder nach Hause zu fahren, nachdem sie auf unsere Kinder aufgepasst hat.
Ich habe es noch niemandem gesagt. Ich habe mir selbst versprochen, dass ich Weihnachten für niemanden versauen werde. Keiner wird es merken. Niemand soll es wissen. Nicht mal Tim, mein Mann, wird es verstehen. Alles wie jedes Jahr und dann werde ich es schaffen.
In meiner Jackentasche summt mein Handy und ich weiß sofort, wer mir schreibt. Es ist Frederik, der mir jeden Abend um diese Zeit ein Herz schickt. "Mist", denke ich mir. Ich habe vergessen, den Chatverlauf in den archivierten Modus zu stellen. Dort verharrt unser Gespräch immer bis zu dem Moment, wenn ich Zeit finde und mich sicher fühle. Ich nehme das Handy aus der Tasche und blicke auf den Bildschirm. Ein rotes Herz leuchtet und darunter steht, dass ich eine weitere Mitteilung habe. "ich vermisse dich." steht da. So wenige Worte, die so vieles in mir berühren. Ein Lächeln geht mir durchs Gesicht, gefolgt von Tränen. Ich kann ihm jetzt nicht antworten, dass weiß er. Er kennt den Ablauf, nichts davon ist neu für uns.
Nachdem ich durch die Haustür wieder ins Haus gekommen bin, stürmt Eva, meine Tochter auf mich zu. Dieser kleine Wirbelwind ist kaum zu bremsen. "Wann bekommen wir denn die Geschenke?" fragt sie, während sie an mir zerrt. Ich sehe sie an uns lächle, obwohl meine Energie das kaum noch hergibt. "Na an Weihnachten Hase." Sie rennt ins Wohnzimmer, wo sie mit ihren Geschwistern auf dem Sofa sitzt und einen Weihnachtsfilm guckt.
Tim ist oben im Bad und wäscht sich den Stress und den Schweiß des Tages ab. Jeden Abend geht er direkt duschen wenn er nach Hause kommt. Er möchte sich "wohlfühlen" und mit der Dusche kann er, so glaube ich es zumindest, alles vom tag loswerden, was ihn unzufrieden gemacht hat. Das gelingt ihm bedingt, genau wie mir. Ich bringe vieles mit nach Hause glaube ich. So viel verschiedene Gefühle und Gedanken, dass ich alles auf Sparflamme stelle, wenn ich durch die Tür gehe. Meine Kapazitäten sind erschöpft und mein Akku ist auf rot. Ich kann mich dem was ich empfinde kaum stellen, denn es überfährt mich geradezu.
Ich gehe in die Küche, nehme die Müslischalen aus dem Schrank und beginne, den Tisch für das Abendbrot zu decken. Tim kommt in den Raum und umarmt mich kurz von hinten. "Na, wie war dein Tag? fragt er mich. "Gut, wie immer eigentlich." Ich lüge. Ich bin richtig gut darin geworden. Ich glaube, keiner kann mich noch wirklich sehen in dieser Familie. Für alle funktioniert unser Leben wie immer, nur für mich nicht mehr. Aber Weihnachten muss ich schaffen.
Matthis steht in der Küche. Er ist sieben Jahre alt und hat die großen braunen Augen meines Vaters geerbt. Er sagt nichts, sieht mich nur an. Seine Augen begutachten mich. Das verunsichert mich. Weiß er was? Sieht er was? Kann er sehen, was ich fühle? Habe ich nicht aufgepasst? Hat er was mitbekommen?
"Matthi, ist alles in Ordnung? frage ich ihn, doch er sieht mich nur an und läuft dann wieder ins Wohnzimmer. Da ist er wieder, dieser Kloß. Noch größer und belastender als zuvor. Mein Herz geht schneller und ich merke, wie die Unruhe in mir zu Panik wird.
"Ich muss zum Klo", sage ich zu Tim, der gerade den Tisch weiter deckt. Er nickt nur und beachtet mich nicht weiter.
Auf der Toilette nehme ich mein Handy und öffne den Chat. "Hi" schreibe ich. Es dauert nur wenige Sekunden und er antwortet mir. "Hi" steht da. Es ist wie eine eigene kleine Welt in der ich Zugang zu allem habe, was ich im Alltag ausblende und beiseite schiebe. In meinem Herzen wird es wieder warm. Noch bevor ich etwas tippen kann, klingelt mein Handy und meine Schwester ruft mich an.
"Hallo?"
"Inga, ich bins"
"Ja das hab ich doch auf dem Display gesehen"
"Inga, Weihnachten kommen wir ja zu euch. Ich freu mich so! Das wird so schön. Die Kinder freuen sich schon und Arne kümmert sich um dieses eine Spiel von dem Anne erzählt hatte. Das mit der Musik."
"Ja das ist toll"
"Inga ist alles ok?"
"Ja klar" - das sage ich wohl etwas zu schnell und etwas zu positiv, aber meine Schwester lächelt am anderen Ende der Leitung.
"Ich bewundere ja, wie du das immer schaffst so an Weihnachten. Jedes Jahr die ganze Familie bei dir und so. Na ich freu mich auf jeden Fall."
"Miri ich leg auf ja? Die Kinder haben Hunger und..."
"Klar, sorry! Bis bald" und zack hat sie aufgelegt.
Weihnachten wird für mich zur Zerreißprobe. Augen zu und durch. Nur noch 18 Tage, dann habe ich es geschafft. Im neuen Jahr werde ich es verändern. Es ist das dritte Mal, dass ich mir selbst dieses Versprechen gebe, aber ich werde es dieses Mal machen. Auch wenn Matthis im Februar Geburtstag hat.
Stille in meinem Kopf. Dann diese Stimme. "Das kannst du nicht machen. Er wird acht. Das wird für ihn die Hölle."
Vielleicht warte ich noch.
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